Klammerblues und Partykeller

Beim Durchsehen meiner Musiksammlung nach Doubletten, Abteilung ‘70er, ist mir zweierlei aufgefallen.
Einerseits, dass ich wohl schlimmer unter der Langeweile leide als ich mir eingestanden habe. Oder, wer zum Honk, kommt auf die wahnwitzige Idee mit der Musiksortiererei - und setzt sie dann auch noch um!
Zum Anderen, dass es Dinge aus den ‘70ern gibt, die ich vermisse oder teilweise irrtümlich den ‘80ern zugeschrieben habe. „Saturday Night Fever“ mit dem sehr jungen John Travolta z.B. stammt aus den ‘70ern. Lesern jüngeren Datums ist Travolta eher bekannt aus neueren Actionkrachern wie „Pulp Fiction“, „Operation Broken Arrow“, oder „Password: Swordfish“.

Dann gab’s in den ‘70ern noch die kleinen muffigen Partykeller, die mit den zahlreichen Feiern samstags den Discos die Gäste wegnahmen. Die meisten der älteren Jahrgänge dürften dort in jungen Jahren die eine oder andere Party gefeiert haben. Manchmal sogar mit anschließender Übernachtung in der „Liegeecke“, die mit ein paar alten Matratzen unbedingt in einen Partykeller gehörte! Genauso wie eine Lichtorgel, Schwarzlicht und eine Discokugel. Störungen durch Handies waren nicht zu erwarten, höchstens durch die Hausbesitzer oder deren Nachbarn. Handies gab es nämlich genauso wenig wie Computer, das Internet, bleifreies Benzin oder eine Anschnallpflicht (ja, es gab schon Strom!). Wer da war, blieb da, die Musik kam vom Plattenspieler und es gab viele verschiedene Richtungen wie Rock, Soul, Reaggae, Funk (Klasse viel Bass), Wave und Gothic, Rockabilly, Blues und natürlich Disco. Und die, die ich vergessen habe. Tanzarten und -Stile gab es natürlich auch dementsprechend viele!

Egal, wofür das Herz auch schlug, ob Hardrock oder Disco: bei einer Richtung herrschte Einigkeit. Alle fanden sich in frühen Teenagerzeiten auf der Tanzfläche beim „Klammerblues“ wieder. Das war neben dem klassischen Tanzkurs eine todsichere Möglichkeit, mit einem Mädchen auf Tuchfühlung zu gehen. Und zwar - genau wie der Tanzkurs - im Einklang mit den gesellschaftlichen Regeln; sogar bei Klassen- oder Schulfeten unter Aufsicht!

Da die Bewegungen beim Klammerbluestanzen quasi nicht existierten, konnte man sich völlig auf seine Tanzpartnerin konzentrieren. Zu beachtende Regeln gab es kaum: ein Lied Länge war Pflicht, die Hände oberhalb der Gürtellinie durften fast alles, nur unauffällig bis unsichtbar sollte es geschehen. Küsse waren auch erlaubt - genauso wie das Auseinandergehen, als wäre nichts passiert, sobald die Musik endete. Ich habe beim Bluestanzen jedenfalls einige schöne Erfahrungen gemacht… ;-)

PS: wer weiß, wovon ich geschrieben habe, kennt auch Telefone mit Wählscheibe und Kabel, „Wahrheit oder Pflicht“, S/W Fernseher, Apfelkorn, Bonanzaräder und Mofas. Er weiß, dass Jägermeister ein Altherren- und kein Kultgetränk war, dass „Ernte 23“, „HB“ und „RothHändle“ geraucht wurden

- und er/sie ist aaalt… ;-)

8 Antworten auf “Klammerblues und Partykeller”

  1. Peter zobel sagt:

    Moin, Tono.

    Mit diesem von dir verfassten Revival kann ich mich, der genau wie du 1962 das Licht der Welt erblickte von vorn bis hinten wiederfinden, deshalb einmal wieder ein paar Worte von mir hier aus Hameln. Was das Thema Musik angeht waren meine Idole die Herren von Sweet, T-Rex mit Marc Bolan und natürlich der laufende Meter Suzy Quatro. Etwas später konnte ich mich für die Dire Straits, Supertramp und Jean Michele Jarre begeistern. Die Feten verliefen bei mir genau wie du sie oben beschreibst wobei Sailing und Mandy von Barry Manilow die absoluten Favoriten für den Klammerblues waren.
    Bei den Genußmitteln wie Tabak oder Alkohol erinnere ich mich insbesondere an eine Zigarettenmarke mit dem Namen Bastos, meines Wissens eine Belgische. Die war dermaßen stark, wer die damals auf Lunge geraucht hat der zählte zu den ganz Harten und wenn ich nur an den legendären Persiko, damals auch Perversiko genannt, kriege ich heute noch Kopfschmerzen.
    Mein Bonanzarad war Knallorange und am Bügel hinterm Bananensattel hing natürlich ein Fuchsschwanz.

    Scheiße, das war`ne geile Zeit.
    Ich glaube, ich bin aaaaalt.

    Grüße von Peter Zobel,
    aus der Badminton Hochburg Hilligsfeld.

  2. tono sagt:

    Ja, Persiko habe ich auch kennengelernt:
    war ein echt zuverlässiger, giftiger Kopfschmerzmacher… :-(

  3. Steffi sagt:

    … gefällt mir sehr (bis auf P.S.) was Du geschrieben hast. Klammerblues hieß bei uns Schwofen und das war so schön! LG Steffi

  4. Silli sagt:

    Oh jaaaaa, ich erinnere mich. Füge auch gerne eine Zitat von Rainald Grebe hinzu: “Unsere Eltern haben uns mit Hanuta beworfen, unsere Nachbarn mit Niveacreme”.
    Da ich eine Winzigkeit jünger bin, war unser Party-Klammerblues-Kracher nicht Barry Manilow, sondern “Power of Love” von Frankie goes to Hollywood. Satte 12 Minuten in der extended version…:D
    Die coolen Säue waren die, die ihre Mofas frisierten und mit lichtgeschwindigkeitsartigen 40 km/h die Straßen unsicher machen. Und wir haben alle so getan, als ob Cherry Coke wirklich schmeckt.
    Es umarmt Dich eine steinalte
    Silli

  5. Claudia sagt:

    Hallo, habe deinen Text zu den 70ern gerade gelesen. Kann mich noch an viele Dinge erinnern: EKG-Disco (wenn man denn reinkam), Tanzkurs bei Anita in Entrup, Apfelkorn, Roter, Gesellschaftshaus Bielefeld, Top-Inn, Frangipani…und vieles mehr. Ach ja, waren das schöne Zeiten. Damals hatten wir eine tolle Clique mit Garagen- und Kellerparty mit jenen Ausruh-Matratzen-Ecken. Es war eine unbeschwerte und tolle Zeit, bevor das Leben dann ernst wurde.

    Gruß Claudia

  6. Bianca sagt:

    Auf jeden Fall eine Superzeit, Tono, Du Schlimmer …;o))

    Bussi Bianca

  7. Carsten Doerfert sagt:

    Ja Tono, wenn Du es schon ansprichst: April 78, 10a-Klassenfahrt nach Undeloh, Hit der Saison war “Hiroshima” von Wishful Thinking, mit dem abgedrehten Mittelteil (auf C-90 Chromdioxid-Cassette vom Stereo-Recorder abgespielt). Und Tono hatte meist das hübscheste Mädchen aus der Berliner Klasse im Arm, die zeitgleich mit uns in der JH war…And the world remembers his face, remembers the place was here…Cheers Carsten

  8. tono sagt:

    Hallo Carsten,

    sie hatte rehbraune Augen, braune Haare, hieß Sabine („Biene“), wohnte in Wedding, duftete unglaublich gut - und hat mich im nächsten Sommer in Berlin versetzt… :-(

    Das ist der Grund, warum es so viele Herz-Schmerz-Lieder in der Musik gibt

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